Aktuell in der GmbHR

Die unternehmerische Mitbestimmung in der Societas Europaea (SE) bei Umstrukturierungen (Bochmann/Schirrmacher, GmbHR 2024, 729)

Die unternehmerische Mitbestimmung ist Gegenstand intensiver rechtspolitischer Debatten, nicht zuletzt weil sich gewisse Vollzugsdefizite nicht verleugnen lassen (empirisch Bayer, AG 2023, 137 ff.). Insbesondere bei der Societas Europaea (SE) verschwimmen allerdings mitunter die Grenzen zwischen rechtspolitischen Zielvorstellungen und geltendem Recht. Das Urteil des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren C-706/22 zur europarechtlichen Reichweite der unternehmerischen Mitbestimmung in der SE bei Umstrukturierungen setzt sich davon mit bemerkenswerter Klarheit und Eindeutigkeit ab.


I. Einleitung

II. Die Entscheidung des EuGH, Urt. v. 16.5.2024 – C-706/22

1. Ausgangssachverhalt und Verfahrensgang

2. Generalanwalt und EuGH

III. Schlussfolgerungen für die Gestaltungspraxis

1. Zulässigkeit der SE-Gründung ohne Durchführung des Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens

2. Grundsatz: Keine Nachholungspflicht

3. Ungeklärte Fragen

a) Nachverhandlungspflicht bei mitbestimmungsverkürzenden Strukturmaßnahmen i.S.d. § 18 Abs. 3 SEBG?

b) Nachholungspflicht im Missbrauchsfall nach § 43 SEBG?

c) Wirkungen eines überobligatorisch durchgeführten Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens

IV. Die optierte Personengesellschaft nach dem Wachstumschancengesetz

V. Fazit in Thesen


I. Einleitung

Anfangs der laufenden Legislaturperiode erhielt die unternehmerische Mitbestimmung aufgrund von Programmsätzen im Koalitionsvertrag, die ihre Stärkung ankündigten, große Aufmerksamkeit. Den Ankündigungen der Koalitionäre sind bislang allerdings noch keine gesetzgeberischen Taten gefolgt, während sich zugleich ein Vollzugsdefizit hinsichtlich der bestehenden Regeln nicht verleugnen lässt. Impulse wird die Diskussion um das de lege lata korrekte Maß der unternehmerischen Mitbestimmung in der Societas Europaea (SE) durch die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache C-706/22 zu einer Vorlagefrage des BAG erhalten. Aus der deutschen, von einer sehr weitgreifenden Ausdehnung des Mitbestimmungsrechts durch die Arbeitsgerichte geprägten Perspektive ist diese Entscheidung bemerkenswert. Dass sie mit Blick auf die einschlägigen europarechtlichen und nationalen Vorschriften sowie deren Sinn und Zweck weder überraschend noch systemwidrig ist, zeigt der folgende Beitrag. Im Kern gilt, dass die SE in mitbestimmungsrechtlicher Hinsicht eben eigenen und in entscheidenden Aspekten anderen Regeln folgt als die deutsche GmbH und Aktiengesellschaft. Das mag man rechtspolitisch kritisieren. Argwohn gegenüber der Legalität des Fehlens unternehmerischer Mitbestimmung in SEs ist auf Basis des geltenden Rechts aber deshalb typischerweise unbegründet, weil jenes Fehlen schlichte Konsequenz der entsprechenden Rechtsformwahl ist.

II. Die Entscheidung des EuGH, Urt. v. 16.5.2024 – C-706/22

1. Ausgangssachverhalt und Verfahrensgang


Die Entscheidung des EuGH ist auf ein nach Maßgabe des Art. 267 AEUV eingeleitetes Vorabentscheidungsersuchen des BAG zurückzuführen. Konkret streiten die Beteiligten vor dem BAG – auf der einen Seite der Konzernbetriebsrat und auf der anderen Seite die betroffene SE – über die Frage, ob ein Verhandlungsverfahren über die Beteiligung der Arbeitnehmer in der SE nachzuholen ist, wenn die SE zuvor ohne Durchführung eines solchen Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens gegründet wurde und später herrschendes Unternehmen von Arbeitnehmer beschäftigenden Tochtergesellschaften in mehreren Mitgliedstaaten wird. 

Die streitgegenständliche SE wurde auf Grundlage von Art. 2 Abs. 2 SE-VO als sog. Holding-SE gegründet, wobei die an ihrer Gründung beteiligten Gesellschaften weder selbst Arbeitnehmer beschäftigten noch Tochtergesellschaften i.S.v. Art. 2 Buchst. c) der Richtlinie 2001/86/EG (Beteiligungs-RL) hatten und daher auch keine Arbeitnehmer zugerechnet werden konnten. Die in Art. 12 Abs. 2 SE-VO an sich vorgesehene Durchführung des Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens vor Eintragung der SE im Handelsregister und ihrer damit verbundenen Gründung war demgemäß mangels vorhandener Arbeitnehmer nicht möglich.

Einen Tag nach der Eintragung der Holding-SE im zuständigen Register wurde sie alleinige Gesellschafterin einer bis dahin mitbestimmten GmbH, welche selbst über 800 Arbeitnehmer beschäftigte und der über ihre gesellschaftsrechtlichen Beteiligungen weitere 2.200 Arbeitnehmer zurechenbar waren. Im Nachgang zum Anteilserwerb an dieser GmbH durch die SE wurde die GmbH in eine SE & Co. KG umgewandelt, was zur Folge hatte, dass (...)
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 23.07.2024 14:46
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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