BGH v. 16.4.2024 - II ZR 70/23

Aufgegebene Rechtsauffassung: Bei durch Hinweis des Gerichts veranlasste erstinstanzliche Antragstellung keine Zurückweisung der Berufung gem. § 522 Abs. 2 ZPO

Dem Berufungsgericht ist es verwehrt, die Berufung gem. § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen und dadurch eine Klageänderung für wirkungslos zu erachten, wenn das Erstgericht die erstinstanzliche Antragstellung durch einen Hinweis auf seine im Urteil aufgegebene Rechtsauffassung veranlasst hatte.

Der Sachverhalt:
Die Kläger und die Beklagten zu 1) bis 4) waren Gesellschafter der Beklagten zu 5), einer Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaftung i.L., die durch Verschmelzung dreier Patentanwaltskanzleien entstanden ist. Am 15.7.2016 erklärten die Kläger und die Beklagten zu 1) bis 4), dass das Ausscheiden ersterer zur Eintragung in das "Handelsregister" angemeldet werde und erteilten dem ihre Unterschriften beglaubigenden Notar entsprechende Verfahrensvollmacht. Am 26.7.2016 wurde das Ausscheiden der Kläger aus der Beklagten zu 5) im Partnerschaftsregister eingetragen. Die Parteien streiten (soweit noch von Interesse) darüber, ob und ggf. zu welchem Zeitpunkt die Kläger aus der Beklagten zu 5) ausgeschieden sind und in welcher Höhe die Kläger deswegen abzufinden sind.

Das LG erteilte den Parteien den Hinweis, dass es "in einer vorläufigen Einschätzung" von einem Ausscheiden der Kläger aus der Partnerschaft zum 31.5.2016 ausgehe. Die Kläger beantragten im ersten Rechtszug zuletzt festzustellen, dass sie mit Ablauf des 31.5.2016 aus der Partnerschaftsgesellschaft ausgeschieden sind, und die Beklagten zu verurteilen, ein auf diesen Zeitpunkt berechnetes Auseinandersetzungsguthaben zu zahlen sowie hilfsweise dazu Stufenklage erhoben, deren erste Stufe auf die Erteilung von Auskünften in dem Zeitraum bis zum 31.5.2016 gerichtet ist.

Das LG wies die Klage ab. Das OLG wies die dagegen gerichtete Berufung der Kläger durch Beschluss zurück. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Kläger hob der BGH den Beschluss des OLG auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung dorthin zurück.

Die Gründe:
Das OLG hat den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör verletzt (Art. 103 Abs. 1 GG, § 544 Abs. 9 ZPO). Es hat trotz Unterbleibens eines im ersten Rechtszug nach § 139 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 ZPO gebotenen Hinweises den Klägern durch die Zurückweisung der Berufung durch einstimmigen Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO die Möglichkeit abgeschnitten, im Berufungsrechtszug sachdienliche, der geänderten und vom OLG geteilten Rechtsauffassung des LG angepasste Anträge zu stellen.

Eine zweitinstanzliche Klageerweiterung als solche hindert das Berufungsgericht nicht, bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen die Berufung durch Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen. Wird die den erstinstanzlichen Streitgegenstand betreffende Berufung durch einen einstimmigen Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen, verliert die Klageerweiterung entsprechend § 524 Abs. 4 ZPO ihre Wirkung. Dem OLG ist es aber dann verwehrt, die Berufung gem. § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen und dadurch eine Klageänderung für wirkungslos zu erachten, wenn das Erstgericht die erstinstanzliche Antragstellung durch einen Hinweis auf seine im Urteil aufgegebene Rechtsauffassung veranlasst hatte.

Nach diesen Grundsätzen hätte das OLG die Berufung der Kläger nicht durch Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO zurückweisen dürfen. Es hat rechtsfehlerhaft angenommen, dass das LG nicht zu einem Hinweis auf seine geänderte Rechtsauffassung verpflichtet gewesen sei. Erteilt das Gericht einen rechtlichen Hinweis in einer entscheidungserheblichen Frage, so darf es diese Frage im Urteil nicht abweichend von seiner geäußerten Rechtsauffassung entscheiden, ohne die Verfahrensbeteiligten zuvor auf die Änderung der rechtlichen Beurteilung hingewiesen und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben zu haben.

Dies hat das LG versäumt. Es ist in seinem Urteil abweichend von dem zuvor erteilten Hinweis davon ausgegangen, dass die Kläger nicht mit Ablauf des 31.5.2016 aus der Beklagten zu 5) ausgeschieden sind. Der hiernach gebotene Hinweis war nicht deshalb entbehrlich, weil das LG seine Rechtsauffassung in dem Hinweis ausdrücklich als vorläufig bezeichnet hatte. Hierbei handelt es sich um nichts weiter als eine Selbstverständlichkeit, insofern jede Meinungsbildung des Gerichts bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung, auf die das Urteil ergeht, vorläufigen Charakter hat. Auch der Umstand, dass die Beklagten im Folgenden der im Hinweis mitgeteilten Einschätzung des LG inhaltlich entgegengetreten sind, war hier nicht geeignet, den durch den Hinweis gesetzten prozessualen Vertrauenstatbestand zu beseitigen. Es ist nicht ersichtlich, weshalb die Kläger schon aufgrund des Beklagtenvortrags davon ausgehen mussten, dass das Gericht nicht mehr an seiner zuvor geäußerten Auffassung festhalten werde. Der Umstand allein, dass ein Gesichtspunkt streitig und entscheidungserheblich ist, genügt hierfür nicht.

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 17.05.2024 12:33
Quelle: BGH online

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